Dies ist die Geschichte von einer die auszog um nach Lissabon zu fliegen, aber in Paris landete. Oder auch: die Kumulation von Murphy's Law und wie ich meinem Pariser Engel begegnete.
Es ist Dienstag, 14 Uhr, ich stehe am Flughagen in Hannover/Langenhagen, bepackt mit einem Rucksack voller Kameras und einem weiteren bepackt mit spärlicher Kleidung für 25°c und Sonnenschein am Atlantik. Mein Ziel ist Lissabon mit einem meiner besten Freunde, Wein trinken, Fado hören, die steilen Straßen in der Junihitze entlang zu wandern, mein erster Flug seit fast elf Jahren. Ich verabschiede mich von meinen Liebsten, führe das letzte Telefonat aus Deutschland, ich lache, bin nervös, hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, ich wäre erst recht in den Flieger gestiegen.
Es heißt ja, dass die Freiheit über den Wolken grenzenlos sei. Meine Flugangst, in einem Ausmaß, der mir bis zu diesem Tag keineswegs bewusst war, sieht das Ganze etwas anders. Nach eineinhalb Stunden purer Panik trotz dem Versuch mich auf andere Dinge zu konzentrieren, kam ich matt und völlig energielos in Paris an. "Ich kann heute nicht noch einmal in einen Flieger steigen", sage ich zu meinem Kumpel, "flieg nach Lissabon, ich bleibe hier". Und dann ein Satz, der die letzten Monate meines Lebens gut beschreibt: "Ich komm schon klar". Die Worte fliegen von meinen Lippen wie eine unumstürzbare Wahrheit, ich lasse mein Gepäck aus dem Flieger holen, winke meinem Kumpel zum Abschied, stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und suche die Metro am Charles de Gaulle. Ich bin in Paris, erneut, eine Stadt, in die ich immer flüchte, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. In der Metro spielt ein Mann Akkordeon, ich lausche ihm kurz, sehe aus dem Fenster und spüre dieses Kribbeln in mir. Ich habe festen Boden unter den Füßen, ich weiß nicht wohin es mich treibt oder wann und wie ich wieder nach Hause komme. Aber das ist auch erstmal egal. Je suis ici.
Als ich am Gare du nord ankomme regnet es. Es riecht nach Paris, die Straßen sind voll, in den Cafés läuft ein Fußballspiel und ich suche eine Unterkunft. Überall stoße ich lediglich auf überfüllte Hotels, bis ich eines nahe des Boulevard de Magenta finde, dass zwar nur noch ein Vierbettzimmer frei hat, der Angestellte namens Robbie sich aber gütig zeigt und es mir zum Preis eines Einzelzimmers gibt. Ich lade meine Sachen ab, schleppe meinen Laptop in die kleine Hotellobby um eine Freundin in Paris zu erreichen und irgendwann hält Robbie mir eine Flasche Jägermeister vor die Nase. Stunden später schleiche und krieche ich in den dritten Stock des Hotels, lasse mich müde und völlig betrunken auf meine vier Betten fallen und versinke in einen unglaublich tiefen aber dankbaren Schlaf. Um zehn Uhr am Mittwoch ist die Nacht für mich vorbei. Die Sonne strahlt durch das Fenster meines rosa Zimmers, ich esse ein Stück Baguette vom Vortag, rauche genüsslich eine Zigarette zum Fenster heraus und mein handy klingelt: "Wie geht es Dir?", "Ich bin verkatert", "Gut, ich auch, wir treffen uns um halb eins an der Rue de Condé". Ich packe meine Sachen zusammen und stürze mich hinaus in das Leben.
In meiner Planung für die kommenden Tage war allerdings ein Überfall an der Metrostation Barbés-Rouchechouart nicht verzeichnet, und so stolpere ich auf einmal ohne Papiere, ohne Geld und ohne Bankkarten mit Tränen in den Augen durch die Mittagssonne. Ich rufe meinen Mitbewohner im 900km entfernten Hannover an und wir versuchen meine Karten sperren zu lassen - geklappt. Ich sacke wie ein Klappstuhl an der Rue de Condé zusammen, meine Tränen platschen auf den Bordstein, ich drehe mir mit zittrigen Händen eine Zigarette und weiß, dass gerade eine Stimme die notwendige Ruhe herstellen kann, die benötigt wird. Scheiß auf Auslandstarife, meine Augen werden wieder trocken und über mein Gesicht huscht ein Lächeln. Und da kommt dann auch schon mein pariser Engel, Vera Valérie, mit langen gewellten braunen Haaren und sammelt mich erst einmal ein. Nach viel Wasser, einem Kaffee und einem kleinen Baguette kommen die Kräfte und der Optimismus vollständig wieder und so begeben wir uns gemeinsam zur nächsten Polizeistation, die genauso aussieht, wie in einem Film. Alles wirkt surreal, David Lynch lässt grüßen, wir geben eine Anzeige auf, ich unterzeichne einen Haufen Papiere, die besagen, dass ich nun keine mehr habe und zupfe einen eigenartigen Marienkäfer von Veras Jacke. Da sich Murphy's Law hier zur zeit herumtreibt bekomme ich wohl keine Übergangspapiere von der deutschen Botschaft. Ohne Identität lasse ich mich auf einen Stuhl im Jardin du Luxembourg fallen, die Sonne im Gesicht und ein Buch auf dem Schoß. Ich bin heile geblieben, das zählt.
Nach einem langen Fußmarsch kommen wir abends in Veras WG an. Pascal, Gille und die Katze Giugiu. Die Katze und ich werden direkt Freunde, ich sitze abends am See, lese, schreibe, lasse meinen Blick über das Wasser gleiten in völliger Ruhe und esse Melone. Am kommenden Tag ist hier die Fête de la musique, ich versuche Schlaf zu finden, träume merkwürdige Dinge und wache morgens alleine irgendwo am Rande von Paris auf. Draußen schweben ein paar Wolken über den Himmel, kleine gelegentliche Schauer sind angesagt, ich packe meine Kameras und mein Buch, beschließe mich irgendwo an einem schönen Platz niederzulassen und zu lesen. Ich fahre Richtung Notre Dame und werde von einem epischen Hagel-Gewitter überrascht. Der Versuch unter einem Baum Schutz zu finden misslingt, Regen tropft mir von jeder Faser meines Körpers, mein Rucksack ist nass, mein faltbarer Metroplan gerissen, meine Zigarettenblättchen nur noch ein einziger Klumpen. Neben mir steht ein Geschäftsmann, der sich das Jackett über den Kopf zieht und lacht. Wenigstens lachen sie hier darüber statt zu schimpfen. Ich schwimme richtung Rue de Rivoli, erneuter epischer regenschauer, eine junge Frau presst sich genauso wie ich unter einen Baum, hält ihre Handtasche lachend über den Kopf, ich lache mit, wir unterhalten uns, ich mache Fotos von ihr.
Klitschnass lasse ich mich in einem Starbucks nieder. Der Versuch ein günstiges Zugticket nach Hause zu bekommen ist kläglich gescheitert. Ich nippe an meinem Kaffee, versuche ein paar verzweifelte Tränen zurück zu halten, mir ist kalt und ich fühle mich für einen Moment ganz fürchterlich verloren in dieser großen und vollen Stadt. Auf einmal ertönt aus einem nahegelegenden Instrumentengeschäft wunderbare Musik. Sofort schnappe ich mir meine Sachen und stehe nass bis auf die Knochen vor einer kleinen improvisierten Bühne und höre einem Jazz-Funk-Trio zu. Ich lasse meine Gedanken schweifen, denke an liebe Menschen, lasse mich eine Stunde von der Musik treiben, das Herz wieder etwas leichter machen und fasse erneut wieder Mut. Selbst die Sonne ist wiedergekommen. Wenn schon alles schief geht, dann kann ich die Zeit hier wenigstens genießen. So what. Ich flaniere an der Seine entlang, mehrere Kilometer, am Louvre vorbei, durch Parks, bestaune wie ein kleines Kind den immer näher kommenden Eifelturm, lasse mich auf einem Platz nieder und lese, mache ein paar Fotos, bevor ich mich auf den Weg mache meinen pariser Engel zu treffen. Wir fahren nach Saint Paul, treffen Freunde, die mich unglaublich lieb in ihre Mitte aufnehmen, trinken Weißwein, schlendern durch die tanzenden und singenden Massen, genießen die Abendwärme in den Gassen, der Regen ist längst vergessen. Spät fallen wir hundemüde in unsere Betten am Rande von Paris. Morgen ist ein neuer Tag.
Es ist Freitag, das Wetter zeigt sich wesentlich freundlicher, murmelgroße Hagelkörner erwarte ich heute nicht. "Wo fahre ich heute hin" ist das Motto des Tages. Mit der Linie 8 fahre ich zur Bastille, kaufe ein kleines Baguette, bestaune die unzähligen Macarons in der Auslage einer Brasserie, setze mich unter einen Baum und lese mein Buch zu ende. Da es schon früher Nachmittag ist und ich mich am frühen Abend mit meinem Engel an der Metro der Avenue de Champs-Élysées treffe, beschließe ich direkt schon mal in die Nähe zu fahren. da ich zwar meine Kamera aber keine Speicherkarte dabei habe (vergessen), trinke ich erstmal einen Kaffee, kaufe ich mir zwei Dosen Orangina und lasse mich auf einer Parkbank am Boulevard Haussmann nieder, wo ich nahezu vier Stunden einfach nur herumliege und herumsitze, nachdenke, träume, rauche, trinke und obwohl es nicht die attraktivste Gegend ist, es nicht viel zu sehen gibt, denke ich an Walter Benjamin, an das, was er über diesen Boulevard geschrieben hat und konzentriere mich auf wesentliche Fragen und Dinge, die einfach mal nur mich betreffen. Gegen sieben mache ich mich wieder auf den Weg durch die kleinen Gassen runter zur Avenue de Champs-Élysée, sehe das reiche Treiben, höre Musik und lasse mich wieder von Vera einsammeln. Heute abend geht es in die deutsche Botschaft um das Fußballspiel Deutschland gegen Griechenland zu gucken. Für zehn Euro dürfen wir soviel essen und trinken, wie wir wollen und so reizen wir unsere Flatrate aus und lassen massig Bier unsere Kehlen hinablaufen. Mit einigen anderen Leuten machen wir uns nach dem Spiel auf den Weg richtung Oberkampf zu einer Bar und nippen am Wodka. Die Füße werden schwer, es wird immer später, wir taumeln durch die pariser Nacht nach Hause und ich lasse mich ein letztes Mal auf das Sofa neben der Katze fallen. Morgen abend fährt mein Bus wieder zurück nach Hannover. Hannover ist soweit weg, nicht greifbar, so fremd. "What happens in Paris will stay in Paris" sagen alle in dieser Nacht. Ich frage mich, ob ich bleiben wollen würde. Frage mich wo ich zu Hause bin. Ich weiß es gerade nicht so wirklich.
Heute ist schon Samstag, mein letzter Tag in Paris. Durch die vergangene Nacht fällt es uns schwer aus dem Bett zu kommen. Die Beine und Füße tun weh, mehrere Mücken haben mich in den vergangenen Tagen zerstochen, Gille putzt erst die Wohnung, dann macht er den Fernseher an und wir amüsieren uns über skurille Werbespots. Er fragt mich, ob ich was essen oder trinken möchte. ich möchte erstmal wach werden, sage ich, und lasse mich nochmal aufs Sofa plumpsen. Durch dezentes Klopfen wecke ich Vera, sie macht uns einen wirklich notwendigen vierfachen Espresso. Wir hören Musik, rauchen am Fenster und so recht möchte sich eigentlich noch keiner bewegen. Mein Kumpel fliegt heute von Lissabon nach Paris, da er gerne wenigstens mit mir zusammen zu Hause ankommen möchte und nichts gegen ein paar Stunden französische Hauptstadt hat. Ich für meinen Teil weiß noch gar nicht wo mir der Kopf steht. Ich packe meine Sachen alle zusammen, verabschiede mich von Gille, bedanke mich für diese wunderbare Gastfreundschaft und überlasse ihn seinem Mittagessen. Auf gehts zum Gare du nord um meinen eigentlichen Reisepartner abzuholen. Frisch gebräunt kommt er daher, wir haben Hunger, riesengroßen Hunger, und laufen zum Sacré-Coeur, um dort auf einer Wiese Baguettesandwiches zu essen. Wir laufen durch die engen Gassen, ich fotografiere, kaufe ein paar kleine Mitbringsel für liebe Menschen daheim, wir trinken noch einen Kaffee und ich nippe an einer Roséweinschorle mit Pampelmusensirup. Das schmeckt. Wir reden über die verschiedenen Weine und darüber, wie man sogar ein paar wirklich gute Weincocktails machen kann. Der Abschied naht, mit dem Taxi geht es gerade noch knapp zum Busbahnhof, fast hätte ich den auch noch verpasst.
Ich bin Vera über alle Maßen dankbar, so dankbar, dass es kaum in Worte zu fassen ist. Ich habe in diesen fünf Tagen jede Menge erlebt. So manch eine Sache hätte mir fast den Boden unter den Füßen weggerissen, aber irgendwie scheine ich nicht dazu gemacht zu sein allzu schnell meinen Optimismus zu verlieren. Ich hatte auch irgendwie keinen Grund dazu. Ich wurde mit offenen Armen in paris empfangen und habe eine Gastffreundschaft erlebt, bei der sich viele in Deutschland lebende Menschen eine dicke Scheibe abschneiden können. Ob ich dasselbe tun würde, wenn jemand unverhofft vor meiner Tür stehen würde? Mit absoluter Sicherheit, auch ohne selbst diese Erfahrung gemacht zu haben. Es tut gut, dass es Menschen gibt, bei denen diese Dinge scheinbar ebenso selbstverständlich sind wie für mich. Das lässt ein gutes Gefühl zurück. Sobald Vera wieder in Berlin ist werde ich sie besuchen, groß einkaufen und gemeinsam mit ihr kochen. Ich freue mich auch schon auf meinen analogen Film, den ich morgen direkt zur Entwicklung bringen werde.
Nun bin ich wieder in Hannover. Als ich hier ankam war ich überrascht von der Stille, der Größe dieser Stadt und vorallem, dass sie nicht annähernd so schön ist. Paris aber war laut, manchmal zu laut, sehr voll und trotz aller wunderbarer Erlebnisse bin ich sehr erschöpft. Ich möchte diesen, wenn auch sehr chaotischen, Trip keineswegs missen. So war es vielleicht genau das, was ich mal gebraucht habe, Zeit für mich alleine zum nachdenken, Zeit, um vieles mit großer Distanz sacken zu lassen und Abstand zu gewinnen. Ich glaube, dass ich dieses Jahr noch einmal meine Sachen alleine packen werde und absichtlich mit dem minimalsten an Gepäck losreisen werde, ins Blaue hinein, nochmal dieses gefühl völliger Freiheit zu genießen. Ich denke es wird einige Zeit dauern, bis ich mich wieder in den normalen Alltag eingliedern kann und will. Es kommt mir vor wie eine Art Filmriss, wie etwas ganz Surreales.
In Hannover regnet es, ich habe hier erstmal fünf Stunden geschlafen, meine Lieben umarmt und geherzt. Ich sitze in meinem Zimmer das voll ist mit jeder Menge Kram und am liebsten würde ich mich direkt von allem unnötigen befreien. Ich weiß nun noch mehr, was wirklich wichtig ist, ein großes Herz, Mut, Hirn und eine ordentliche Portion Lachen. Eine Sache, die mir zwar immer klar war, aber nun noch mehr an Bedeutung gewonnen hat. Was ich jetzt noch brauche? Ruhe und vielleicht bald den ein oder anderen Menschen wiedersehen, Menschen, die man nun einfach in die Arme nehmen möchte, weil die Sehnsucht langsam spürbar wird. Es waren nur fünf Tage, aber es kam mir vor wie ein Jahr. Danke Vera, danke an alle anderen, danke Paris, ich bin wieder ein Stück gewachsen, habe mich verändert. Manchmal muss man eben von geplanten Wegen abkommen um das zu finden, was man eigentlich gesucht hat.